Seit einiger Zeit kommt Frau Conrad (Name geändert) zu mir in die Praxis. Bereits ihr Auftreten lässt auf ihre feinen Antennen schließen: Sie ist von zarter Figur, nimmt sich in ihrem Wesen zurück, ihre Bewegungen wirken leicht und sanft. Auf eine Art wirkt sie fast zerbrechlich. Besonders auffallend ist ihre Art zu sprechen: Bevor sie etwas sagt, lässt sie den Blick schweifen und denkt nach. Dann antwortet sie mit Bedacht, wählt ihre Worte mit großer Sorgfalt und spricht leise. Diese achtsame Verwendung von Sprache ist in diesen Tagen eher eine Ausnahme.
Streit um die Redezeit
Diesmal kommt Frau Conrad verweifelt in die Therapie. Sie berichtet von ihren sozialen Kontakten, im Beruflichen und Privaten. Alle sprechen nur noch laut durcheinander, sagt sie, so dass sie gar nicht mehr zu Wort komme. Vielmehr noch: sie fühlt sich nicht gehört. Die Menschen streiten nur noch um ihre eigene Redezeit, ohne dabei ihrem Gegenüber zuzuhören.
Verfall der Gesprächskultur
Das Verhalten ihrer Mitmenschen, wie es Frau Conrad beschreibt, ist symptomatisch für unser derzeitiges Miteinander. Wer am lautesten brüllt, dem wird Gehör geschenkt. Jeder ist mit sich, mit seinem eigenen Befinden beschäftigt und blendet das Umfeld einfach aus. So wird dem Gesprächspartner ins Wort gefallen, auf seine Aussagen wird nicht Bezug genommen, das Gespräch bleibt einseitig. Sensible Menschen wie Frau Conrad haben dagegen keine Chance. Sie könnte ebenfalls laut werden, aber das entspricht nicht ihrer Vorstellung von Gesprächskultur.
Ein Gefühl der Leere
Wenn wir uns solchen Situationen aussetzen, entsteht ein seltsames Gefühl der Leere. Der Gesprächspartner dagegen lädt all seine Gedanken und Themen - mal mehr, mal weniger geordnet - bei uns ab. Wir sind sein Mülleimer, der ihm für eine kurze Zeit Erleichterung verschafft. Doch wie können wir damit umgehen? Ihn darauf hinweisen? Sich zurückziehen? Soziale Kontakte meiden? Diese Entscheidung kann nur jeder für sich treffen. Ich persönlich halte dieses "Abladen" für eine Form von Missbrauch, deshalb fühlen wir uns hinterher schlecht. Lassen wir uns ständig als Mülleimer missbrauchen, geraten wir in eine Opferrolle. Unserem Gesprächspartner wiederum helfen wir damit auch nicht weiter. Es ist also eine verzwickte Situation für beide Seiten.
Den leisen Menschen gehört die Zukunft
Das Reden ohne Punkt und Komma ist weit verbreitet in unserem Alltag. Gerade feinfühlige Menschen wie Frau Conrad leiden sehr darunter. Doch sie ist nicht allein. Es gibt viele Leute, denen es ähnlich geht. Ich habe fast das Gefühl, dass es immer mehr werden, die auf diese Form der Kommunikation empfindlich reagieren. Wir brauchen diese leisen, feinen, sensiblen Mitmenschen, damit wir uns endlich wieder selbst hören und wahrnehmen können. Die "Leisen" helfen uns, aus dem Chaos und Leid herauszufinden. Sie zeigen uns den Weg zum Miteinander. Erst dann gibt es wieder echte Anteilnahme und Mitgefühl. Von daher bin ich davon überzeugt, dass Frau Conrad die Zukunft gehören wird.