Die vierjährige Anna (Name geändert) kommt einmal pro Woche zur Logopädie. Es ist ein sehr zurückhaltendes Mädchen. Sie sagt kaum etwas, aber ihre großen Augen sind ganz wach. Sie hört genau zu und beobachtet alles ganz genau. Es ist eine Freude, mit ihr zu arbeiten.
"Sie soll doch sprechen"
Heute beschäftigen wir uns mit Tieren. Wir schauen uns gemeinsam ein Bilderbuch an, ordnen Tiergeräusche zu. Dann bitte ich Anna, die entsprechenden Tiere aus der Kiste zu holen. Anna versteht meine Aufforderungen, sie macht alles richtig. Am Ende der Stunde stempeln wir die Tiere, und Anna malt sie aus. Ich bin sehr zufrieden mit der Stunde. Anna versteht alle Zielwörter, sie kann alle geübten Tiere richtig zeigen und zuordnen. Das Therapieziel wurde erreicht. Als ich es ihrer Mutter sage, antwortet sie: "Sie soll doch sprechen!"
Logopädie braucht Zeit
Die Reaktion der Mutter überrascht mich nicht. Viele Eltern reagieren ähnlich. Sie kommen mit der Vorstellung, dass ihr Kind in zehn Sitzungen ganz normal sprechen kann. Oft fordern sie ihr Kind auf, die geübten Worte laut nachzusprechen. Oder sie fragen es ab wie bei einem Vokabeltraining "Was ist das?". Doch gerade Sprachentwicklung vollzieht sich in kleinen Schritten. Zuerst lernt das Kind die Bedeutung eines Wortes. Es muss das Zielwort sehr oft und immer wieder hören. Erst dann verwendet das Kind selbst das Wort - es spricht. Vom Wort zum Satz ist es ein langer Weg.
Freude am Spielen und Sprechen
Am besten lernen Kinder, wenn ihr Interesse geweckt ist. Deshalb frage ich immer zuerst die Eltern, womit ihr Kind gern spielt. Mein Schrank ist voller Spiele, so dass sich immer das Passende findet. Oft sprechen Kinder in Momenten der Freude oder der Überraschung, z.B. wenn sie ihr Lieblingstier entdecken oder der gerade aufgebaute Turm zusammenfällt. Wir Erwachsenen brauchen Geduld und Zeit, und dass fällt uns oft sehr schwer. Wir sind es gewohnt, das Gewünschte immer sofort zu bekommen, so wie wir im Internet die Dinge in den Warenkorb legen und am nächsten Tag geliefert bekommen. In der Logopädie müssen wir lernen, dass man nicht einfach einen Schalter umlegen kann, so wie man eine Kopfschmerztablette nimmt und dann alles in Ordnung ist.