Autistische Kinder
Ein neuer Patient hat sich angemeldet. Als es klingelt und ich die Tür öffne, steht ein Mann mit einem zweijährigem Kind auf dem Arm vor der Tür. Der Junge brüllt und lässt sich nicht beruhigen. Der Vater trägt ihn in den Therapieraum, aber der kleine Viktor reißt sich los und läuft wieder hinaus. Es dauert eine ganze Weile, bis er sich beruhigt.
Es braucht Zeit und Geduld
Viktor läuft orientierungslos durch den Raum. Er bewegt seine Hände in kleinen Drehbewegungen, schaut sie still an, läuft weiter. Der Vater berichtet, dass er noch kein einziges Wort spricht. Doch ich kann nicht einfach mit ihm sprechen üben. Zunächst versuche ich, sein Interesse an einem Steckspiel zu wecken. Mehrere Wochen probiere ich es immer wieder, bis er das Spiel versteht. Dann setzt er sich auf den Tisch, fügt die Holzteile in den Würfel, schüttet ihn aus und beginnt auf`s Neue. Er arbeitet hoch konzentriert und lacht dabei. Wir entwickeln gemeinsame Rituale in der Therapiestunde, so dass sich Viktor zunehmend sicher fühlt.
Ein langer Weg der Begleitung
Auch wenn bei Viktor ein Autismus noch nicht diagnostiziert wurde, so zeigen sich deutliche Merkmale. Ich halte mich zurück, denn das wäre Kompetenzüberschreitung. Umgekehrt berichten mir oft Eltern, dass Erzieher einen Autismus bei ihrem Kind vermuten, nur weil es beispielsweise Autos sorgfältig in einer Reihe austellt. Mit solchen Kommentaren sind Eltern massiv verunsichert, und sie sind keineswegs zielführend. Bis zur Diagnose vergehen aus unterschiedlichen Gründen oft Jahre. So erging es auch dem sechsjährigen Ali, der schon lange zu mir kommt. Auch er brüllte an Anfang immer wieder, lief orientierungslos durch den Raum und sprach kein einziges Wort. Als die Eltern die Gewissheit hatten, dass ihr Sohn autistisch ist, versanken sie in Kummer und Verzeiflung.
Eine höchst anspruchsvolle Arbeit.
Der Umgang mit diesen Kindern ist höchst anspruchsvoll, denn sie reagieren sehr sensibel auf ihre Umwelt und auf kleinste Veränderungen und Abweichungen vom Alltag. Von Eltern höre ich immer wieder, dass es große Probleme in Kindergarten und Schule gibt, Pädagogen und Lehrer ungern mit autistischen Kindern arbeiten. Das zieht das nächste Problem nach sich: Förderpersonen und Therapeuten wechseln häufig, und die Kinder reagieren erneut durch unerwünschtes Verhalten. Dabei ist eine kontinuierliche, regelmäßige und zuverlässige Zusammenarbeit die Grundlage für die gemeinsame Beziehung und damit den Therapieerfolg.
Autisten erfordern maximale Präsenz
Wenn ich mit autistischen Kindern arbeite, muss ich die gesamte Zeit hoch konzentriert abeiten. Jede Bewegung, jede Geste registriere ich aufmerksam. So geht es mir auch bei Ali. Wenn er bei einer Aufgabe nicht weiterkommt oder unsicher ist, schaut er mich fragend an. Es ist seine Art, mich um Hilfe zu bitten. Reagiere ich nicht sofort auf seinen Blickkontakt, schlägt Ali schnell um sich und schreit laut. Den Eltern ist das furchtbar peinlich, aber es ist meine Aufgabe, seine Signale genau zu deuten und darauf zu reagieren. Aus diesem Grund fordert die Arbeit mit autistischen Kindern meine volle Aufmerksamkeit und Präsenz. Genauso ist es bei dem neunjährigen Fynn. Auch wenn er sich mittlerweile in ganzen Sätzen ausdrücken kann, benötigt er meine ungeteilte Aufmerksamkeit, sonst springt er sofort vom Stuhl.
Meine logopädische Arbeitsweise
Da viele autistische Kinder erst sehr spät sprechen, können sie ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht äußern. Sie sind wortwörtlich sprachlos. Weil ihnen die Sprache nicht zu Verfügung steht, verhalten sie sich oft durch lautes Schreien bis hin zu unangemessenen Verhaltensweisen, z.B. Schlagen und Treten. Es gelingt ihnen nicht, auf eine andere Weise Kontakt zu ihrem Mitmenschen aufzunehmen. Das sorgt im Alltag für massive Probleme. Ich versuche daher zuerst, den Kontakt zum Kind herzustellen und sie ganz genau zu beobachten. In einfachen Spielen, bei denen man sich abwechseln muss, nimmt es sein Gegenüber wahr und reagiert darauf (z.B. Ich bin dran - du bist dran.). Das gemeinsame Spiel hat für autistische Kinder daher eine besondere Bedeutung. Beim Spielen erarbeite ich in kleinen Schritten und vielen Wiederholungen die ersten Wörter. So versuche ich Woche für Woche auf`s Neue, Kindern wie Viktor, Ali oder Fynn eine Brücke von ihrer eigenen - autistischen - Welt in unsere Alltagswelt zu bauen. Auch wenn Ali noch immer nicht spontan "Hallo" oder "Guten Tag" sagt, so begrüßt er mich jede Woche auf seine Art und Weise: er lächelt mich still an, wenn er den Therapieraum betritt.