Schrift in der Kunsttherapie

Schrift in der Kunsttherapie

Schrift in der Kunsttherapie

Die Kunst des schönen Schreibens wird als Kalligrafie bezeichnet. Wenn die Schrift eine Kunst ist, so kann sie auch folglich in der Kunsttherapie eingesetzt werden. Ich selbst widme mich seit Jahren dieser schönen Kunstform, die in ihrer Wirkung weit unterschätzt wird. Wie ich damit kunsttherapeutisch arbeite, möchte ich im Folgenden am Beispiel der Textura erläutern.

Die Textura: eine Schrift aus der Blütezeit des Mittelalters

Die mittelalterliche Schrift "Textura" entstand in der Zeit der Gotik. Während dieser Epoche enstanden nicht nur Kathedralen, die bis in den Himmel ragten, sondern auch die ersten Universitäten. Es war eine Zeit, in der Europa kulturell und wirtschaftlich aufblühte. Dieses Aufstreben spiegelte sich nicht nur in der Architektur, sondern auch in der Schrift wider. Die Textura legt von diesen Blütejahren ein eindrucksvolles Zeugnis ab.

Ecken und Kanten der Schrift

Im Gegensatz zu vielen anderen Schriften gibt es bei der Textura kaum Rundungen. Die Buchstaben werden in der Regel eckig geschrieben, deshalb zählt die Textura zu den sogenannten gebrochenen Schriften. Das bedeutet, dass beim Schreiben eines einzelnen Buchstabens immer wieder abgesetzt und neu angesetzt werden muss, damit ein Richtungswechsel erfolgen kann. Dieser Richtungswechsel ist nur bewusst und willentlich möglich. Gleichzeitig erfordert er eine Entscheidungskraft. In keiner anderen Schrift ist dieses Auf- und Absetzen der Feder so deutlich sichtbar wie in der Textura.

Verbindung zwischen Himmel und Erde

Die Textura erhielt ihren Namen, weil sie gleichmäßig wie ein Gewebe aussieht. Das Besondere an ihr sind die eng aufeinanderfolgenden, kantigen Buchstaben. Sie sind durch ihre vertikale Richtung gekennzeichnet. Zwischen den Zeilen ist kaum Platz, die Buchstaben drängen nach oben. Es ist eine Verbindung zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde. Dadurch entsteht Aufrichtung und Klarheit. Während in anderen europäischen Ländern die Textura im Laufe der Zeit wieder zurückgedrängt wurde, entwickelte sie sich im deutschsprachigen Raum immer weiter, so dass bis ins 20. Jahrhundert gebrochene Schriften weit verbreitet waren.

Therapeutische Wirkung

Diese sehr ästhetische Schrift ermöglicht eine tiefgreifende therapeutische Auseinandersetzung. Da die Textura vergleichsweise schlecht lesbar ist, geht es hier mehr um die Form als um den Inhalt. Die klaren, vertikalen Linien sind eng mit einer inneren Aufrichtung verbunden. Ja, ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen und eine Verbindung zu unserem Rücken herstellen. Es ist der Teil unseres Körpers, der uns trägt, mit dem wir "aufrecht durch`s Leben"  gehen und mit dem wir "Rückgrat" zeigen. Umgekehrt gelingt uns die Aufrichtung nicht mehr, wenn wir von einem Menschen oder einem System gebrochen werden.

Die Textura ermöglicht uns, klare Entscheidungen zu treffen, uns aufzurichten und letztendlich auch auszurichten. Durch sie können wir zu innerer Stärke gelangen. Wir können Druck von außen standhalten, uns positionieren und Stellung beziehen. Wir verbinden uns mit Himmel und Erde und erkennen dadurch, wer wir wirklich sind.