Anna blüht auf
Anna steht vor meiner Tür. Ich bitte ein zierliches Mädchen von 13 Jahren herein. Sie versteckt sich hinter ihren langen Haaren, die ihr ins Gesicht fallen. Begleitet wird sie von Ihrer Betreuerin aus dem Kinderheim. Die neue Situation verunsichert sie.
Ängstlich vermeidendes Verhalten
Da ihre Angst deutlich spürbar ist, bitte ich ich das Mädchen und ihre Begleitung herein und spreche zunächst einmal mit der Erzieherin. So kann Anna in Ruhe ankommen und sich auf die neue Situation einstellen. Bis jetzt hat sie noch kein einziges Wort gesprochen. Es braucht Zeit und Geduld. Nur wenn sich Anna sicher fühlt, können wir therapeutisch arbeiten.
Eine unbehandelte Sprachentwicklungsstörung
Endlich spreche ich Anna direkt an. Sie beantwortet meine Fragen mit kaum hörbarer Stimme. Nach und nach finde ich heraus, worin das logopädische Problem besteht. Anna fallen oft nicht die richtigen Worte ein (Wortfindungsstörungen). Ihre Sätze sind grammatikalisch falsch (Störung der Grammatik und des Satzbaus). Vor allem aber spricht sie komplizierte Wörter falsch aus. Nach und nach ergibt sich das Bild einer komplexen Sprachentwicklungsstörung, die im Kindesalter nicht behandelt wurde. Sprachentwicklungsstörungen verwachsen sich eben nicht.
Logopädie in kleinen Schritten
Anna wird wegen ihrer Sprachstörung in der Schule gemobbt. Sie leidet sehr darunter, dass sie nicht gut sprechen kann. Wir üben in kleinen Schritten: Verben beugen, die Satzglieder in die richtige Reihenfolge bringen, die Aussprache verbessern. So ängstlich Anna auch ist, sie ist hoch motiviert und zeigt Freude an jeder Übung. In der Wohngruppe übt sie ganz allein in ihrem Zimmer weiter, denn das gute Sprechen ist ihr wichtig.
Anna blüht auf
Bereits nach wenigen Therapiestunden kommt Anna allein zu mir in die Praxis. Ich freue mich, dass sie mutiger wird. Immer seltener versteckt sie ihr schmales Gesicht hinter ihren langen Haaren. Sie zeigt sich, lacht, spricht sogar etwas lauter. Alle Übungen sind für sie richtig und gut. Es kommt gar nicht so sehr auf die einzelne Aufgabe an, sondern um unsere gemeinsame Zeit, den geschützten Rahmen und die seelische Stabilisierung. Das bessere Sprechen gibt Anna nach und nach mehr Selbstvertrauen im Alltag. Sie wird nun besser verstanden und auch nicht mehr in der Schule gemobbt.