Mehr Sprachstörungen durch die Pandemie?

Mehr Sprachstörungen durch die Pandemie?

Mehr Sprachstörungen durch die Pandemie?

In regelmäßigen Anständen lesen wir auf Nachrichtenportalen und Zeitungen, dass es immer mehr sprachgestörte Kinder gäbe. So erschien auch kürzlich die Schlagzeile, dass die Anzahl der sprachauffälligen Kinder durch die Pandemie gestiegen sei. Doch ist das wirklich so?

Vorsicht mit Nachrichten

Bei der letzten Nachricht in einer Tageszeitung wurde ein Bericht einer Krankenkasse zitiert, der noch gar nicht veröffentlicht wurde. Von daher ist die Aussage weder nachvollziehbar noch transparent. Grundsätzlich ist es so, dass international 6-8 % aller Kinder eine Sprachentwicklungsstörung aufweisen. Ich kenne keine Veröffentlichungen, die das widerlegen. Wir sollten also sehr vorsichtig sein, wenn solche Schlagzeilen kursieren. Darüber hinaus liegen keine Forschungen über den Zusammenhang von Pandemie und Sprachstörungen bei Kindern vor. Als Therapeutin habe ich jedoch Beobachtungen gemacht, die ich hier teilen möchte.

Fehlende sprachliche Bildung

Während der Pandemie wurden Kindertagesstätten über viele Monate geschlossen. In dieser Zeit wurde Kindern das Recht auf Bildung verwehrt. Sprachliche Bildung gilt als Vorrausetzung für den schulischen und später beruflichen Erfolg. Doch die Kinder mussten zu Hause bleiben. Sie konnten weder mit Gleichaltrigen in Kontakt treten noch gezielte Bildungangebote der Erzieherinnen wahrnehmen. Durch enorme Krankenstände, Personalmangel aber auch Streiks ist noch lange keine Normalität zurückgekehrt. In den Schulen sieht es ähnlich aus.

Fehlende Prävention & Erkennung von Sprachauffälligkeiten

Sprachliche Bildung und Sprachförderung gelten als Prävention, doch diese fand über einen langen Zeitraum nicht statt. Vielmehr noch, die Erzieherinnen konnten Eltern nicht darauf aufmerksam machen, wenn ihr Kind nicht altersgemäß spricht und Hilfe benötigt. Diese Kinder sind dadurch einfach vergessen worden. Eltern wurden allein gelassen, weil eine fachliche Beratung fehlte. Aber auch die Schuleingangsuntersuchen fanden reduziert statt, bei denen sprachauffällige Kinder erkannt wurden.

Weniger Logopädie

In der Zeit der Pandemie waren zwar alle logopädische Praxen geöffnet, dennoch fanden weniger Behandlungen statt. Durch ständig neue Maßnahmen wurden Eltern stark verunsichert. Hinzu kamen die Quarantänemaßnahmen, wodurch die Therapien immer wieder unterbrochen werden musste. Eine kontinuierliche Behandlung fand einfach nicht statt. Am schlimmsten traf es Kinder in Heimen und Wohngruppen, die durch ständige Quarantänemaßnahmen keinen Zugang zu logopädischen Behandlungen und damit medizinischen Leistungen erhielten.

Zeitfenster schließen sich

Bei Kindern sprechen wir von sogenannten Zeitfenstern. Seit vielen Jahren wissen wir, dass wir bei Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung möglichst früh ansetzen müssen, um Entwicklungsrückstände aufzuholen. Wenn Zeitfenster sich schließen, ist es umso schwieriger, diese Lücken zu schließen. Die logopädischen Behandlungen dauern länger, was zu mehr Kosten im Gesundheitssystem aber auch zu längeren Wartezeiten in Praxen führt. Es ist wie eine große Welle, die sich vor uns auftürmt und immer höher wird.

Massive Folgeschäden

Was sind die Folgen von all dem? In meiner Praxis beobachte ich, dass Kinder viel zu spät zur Logopädie kommen. Ihre sprachlichen Probleme wurden nicht rechtzeitig erkannt. Auch wenn ich mein Bestes gebe, können die Entwicklungsrückstände nicht immer bis zur Einschulung aufgeholt werden. Dort kommt es zum nächsten Problem: die Kinder verstehen die Aufgaben nicht, lernen nicht richtig lesen und schreiben. Es ist ein Teufelskreis. Doch wir Therapeuten sehen nur einen Bruchteil der sprachgestörten Kinder, weil es nicht genügend Kapazitäten gibt. Die Kinder, die keine logopädischen Behandlungen erhalten, werden massive Folgeschäden entwickeln.  Die Talsohle ist daher noch lange nicht durchschritten, im Gegenteil. Ich gehe davon aus, dass in den kommenden Jahren erst nach und nach das verheerende Ausmaß dieser Katastrophe sichtbar wird.