Hungrige Seelen

Hungrige Seelen

In meinem Arbeitsalltag erlebe ich häufig, dass Menschen zu mir kommen, die im Mangel leben. Es sind Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, denn Mangel kennt kein Alter. An materiellen Dingen fehlt es selten. Oder anders herum gesagt, selbst Kinder aus benachteiligten Familien empfinden einen geringeren Konsum selten als einen Mangel. Meist geht es um Dinge, die nicht käuflich sind.

Mangel an Aufmerksamkeit

Wenn ich in den Wohngruppen und Kinderheimen zu Besuch bin, erlebe ich ständig den Mangel an Aufmerksamkeit. Stets werde ich bei meiner Ankunft von vielen Kindern umringt, und jeder möchte mir etwas erzählen. Es passiert aber auch, dass ein Kind etwas für mich malt oder bastelt und es mir schenkt, owohl es nicht bei mir in Behandlung ist. So malte die elfjährige Sarah (Name geändert) über Wochen ein Bild auf einem Keilrahmen und kündigte das Geschenk immer wieder an, obwohl sich mich nur vom Sehen kennt.

Mangel an Zuwendung

Ich genieße das große Privileg, mit Menschen einzeln arbeiten zu dürfen, so dass jeder Patient während der Therapiestunde meine ungeteilte Aufmerksamkeit erhält. Besonders Kinder aus großen Familien lieben es, wenn ich eine Stunde lang nur für sie da bin und sie im Mittelpunkt stehen. Es gibt aber auch Kinder und Jugendliche, die zu Hause nicht die Zuwendung erfahren, die sie sich wünschen. In ihren Wünschen und Bedürfnissen werden sie nicht gehört.  Sie wirken auf mich wie Seelen, die ständig hungrig sind.

Den seelischen Hunger stillen

Besonders deutlich zeigt sich der Mangel im kunsttherapeutischen Handeln. "Hungrige Seelen" versuchen, durch ein übertriebenen Materialverbrauch den Mangel auszuglichen. So wird beispielsweise viel zu viel Farbe auf die Palette getragen, die am Ende weggeworfen wird. Oder aber es werden ganze Einheiten an Aufklebern, Perlen oder anderem Zubehör aufgebraucht. Doch das viele Material macht nicht satt, egal wieviel verbraucht wird. Dadurch wird der Seelenhunger nicht gestillt.

Den Wert der Dinge erkennen

In der Kunsttherapie leite ich den Patienten so an, dass er genau so viel Material erhält, um damit gut arbeiten zu können. Ich zeige ihm den Wert der Dinge auf, indem ich sie begrenze. So darf sich die sechzehnjährige Anna nur fünf Glitzersteine aussuchen. Da ich ihr nicht die gesamte Packung zur Verfügung stelle, muss sie gut überlegen, was sie mit den Glitzersteinen macht. Und durch dieses genaue Abwägen wird jeder der fünf Steine plötzlich wertvoller als zuvor. Vielmehr jedoch: der Moment wird als wertvoll erlebt, der Mangel ist verschwunden. Und dann kann die Seele ein kleines bisschen ihren Hunger stillen.