Leons Unterwasserwelt

Leons Unterwasserwelt

Leons Unterwasserwelt

Jede Woche fahre ich zu Leon in die Wohngruppe. Der elfjährige Junge freut sich immer auf die Terapiestunde und läuft mir stürmisch entgegen. "Was machen wir heute?", fragt er mich stets zur Begrüßung.

"Hast Du eine Idee?"

Meist bringe ich einfache Materialien wie Kartons, Buntpapier oder kleine Zweige mit, um Leons Phantasie anzuregen und mit ihm ins Gespräch zu kommen. In Anlehnung an ein Kinderbuch gestalten wir diesmal Fische mit verschiedenen Emotionen: ein zufriedener, ein nervöser, ein wütender Fisch usw. Immer ermutige ich Leon, seine eigenen Ideen umzusetzen. Er hat ohnehin viel bessere als ich. Neben den Fischen entstehen noch weitere Meerestiere: Muscheln, eine Schildkröte und sogar ein Seepferdchen. Sie werden von Leon bunt angemalt und im Anschluss laminiert.

Logopädie ist immer dabei

Was nach Basteln aussieht, ist in Wirklichkeit viel mehr. Leon beschreibt mir erst ganz genau, was er für Vorstellungen hat. Dann überlegt er, wie er sie praktisch umsetzen kann. Dafür muss er sich sehr genau ausdrücken, damit ich ihm inhaltlich folgen kann. Leons Sprache wird dadurch immer differenzierter, und er kann Dinge deutlich besser beschreiben. Dieses Vorgehen ist für ihn genau richtig, denn von der klassischen Logopädie mit Sprachspielen und Kopiervorlagen ist Leon schon lange müde.

Leons Unterwasserwelt

Als die Fische und Meerestiere fertig sind, hat Leon einen neuen Vorschlag: er benötigt einen Kiste für eine Unterwasserwelt. Daraus gestaltet er nach und nach eine ganz eigene Welt. Die Fische und Meerestiere befestigt er an der Wand, der Boden wird mit kostbaren Edelsteinen dekoriert, und in der hinteren Ecke steht eine Schatzkiste, deren Deckel geöffnet ist. Es ist eine kostbare, glitzernde Welt, die entsteht.

Eine geschützte und schützenswerte Welt

Viele Wochen arbeitet Leon an seiner Unterwasserwelt. Er achtet auf jedes Detail und gestaltet den Karton liebevoll aus. Als ich denke, dass Leon fertig ist, hat er plötzlich eine Idee: es fehlen noch Wasserpflanzen. Leon bittet mich, für ihn Schlingpflanzen aus grünem Tonpapier auszuschneiden. Er erklärt mir genau, wie sie aussehen sollen und wo er sie befestigen will. Dann klebt er die Pflanzen an den oberen und unteren Rand des Kartons. Es entsteht wie eine Art Vorhang, so dass seine Welt vollständig geschützt ist.

Ein Blick in Leons Kinderseele

Erst jetzt ist Leons Werk beendet. Wir schauen es uns gemeinsam an, während Leon aufgeregt vor Freude von einem Bein auf´s andere hüpft. Ich kommentiere nichts, ich frage nichts. Leon vertraut mir, indem er mir mit seiner Arbeit einen Einblick in seine Kinderseele gibt. Es ist eine sehr persönliche Begegnung. Leons Alltag ist durch viele Herausforderungen geprägt, und manchmal ist er damit einfach überfordert. Mit seiner Arbeit hat er sich einen farbenfrohe, kostbare und geschützten Ort geschaffen, zu der nur er Zutritt hat. In dieser Welt gibt es alles, was es braucht, um glücklich und zufrieden zu sein. Es ist ein Ort des Rückzugs und der Geborgenheit, den Leon so dringend braucht.