Wenn die Seele spricht
Frau Müller kommt zu mir in die Praxis. Sie berichtet mir von ihrem Stottern und wie sehr es sie im Beruf beeinträchtigt. Das Stottern ist ihr unendlich peinlich, und so vermeidet sie immer wieder bestimmte Situationen. Ich lege ihr ein Blatt Papier und Stifte auf den Tisch und fordere sie auf: "Malen Sie Ihr Stottern." Frau Müller schaut mich fragend an. Sie versteht meine Aufforderung nicht. Es ist doch verrückt, wie soll man denn ein Stottern malen? Sie hatte ganz "normale" Sprechübungen von mir erwartet. Und nun so etwas.
"Perfekt, wenn Sie nicht malen können."
Frau Müller antwortet: "Ich kann nicht malen." - "Perfekt, dann geht es noch besser." antworte ich. Künstlerische Kriterien stören hier nur, denn dann denken wir schon wieder viel zu viel. Und so sage ich den Satz, denn ich immer wieder verwende: "Machen Sie einfach mal". Damit meine ich, dass die Hand von ganz allein die passende Farbe auswählt und damit Linien und Formen auf das Papier bringt. Bei dieser Aufgabe hilft uns unser Kopf nicht weiter, wir lassen unsere Seele sprechen.
Ein intimer seelischer Moment
Frau Müller überlegt noch einen Moment, dann greift sie zaghaft zum Stift und fängt an. In der Zwischenzeit zeichne ich auch etwas. Ich möchte Frau Müller nicht noch mehr verunsichern, indem ich sie beobachte. Es ist ein höchst intimer Moment. Denn jetzt zeigt sich, wie das Stottern aussieht, wie es sich anfühlt, wie stark der Leidensdruck ist.
Das Bild sagt alles
In kurzer Zeit ist das Bild fertig. Wir hängen es gemeinsam an die Wand und betrachten es. Auf dem Blatt sind dunkle, zacklige Linien, ganz wie ein Seismograf. Frau Müller ist erstaunt. Sie kann plötzlich genau erklären, wann sich das Stottern ankündigt, wie sich der Hals verengt und das Gefühl entsteht, der ganzen Situation ausgeliefert zu sein, nichts mehr zu tun können. Die ganzen unangenehmen Emotionen sind auf einmal da - es fühlt sich furchtbar an. Es lässt sich nichts mehr verstecken - da ist das Stottern ganz eindeutig auf dem Blatt Papier festgehalten.
Hinschauen ist der erste Schritt zur Heilung
Auch wenn das Betrachten des Bildes alle Emotionen an die Oberfläche spült, Frau Müller schaut es sich genau an. Sie fühlt den ganzen Druck, die Scham, den Makel. Und gleichzeitig ist sie völlig überrascht. Das Bild zeigt in aller Klarheit, wie sie sich fühlt. So deutlich hätte sie es niemals in Worte fassen können. "Wie fühlt es sich jetzt an?" frage ich, nachdem wir eine Weile davorgestanden haben. "Es ist schon heftig, aber irgendwie ist es auch gut, das mal so zu sehen. So ist es eben." antwortet Frau Müller. Allein das Hinschauen ist ein therapeutischer Schlüsselmoment, denn es ist der erste Schritt des Annehmens und der Heilung.