"Mir hört doch keiner zu!"

„Mir hört doch keiner zu!“

"Mir hört doch keiner zu!"

Die fünfjährige Emma kommt mit ihrer Mutter zu mir in der Praxis. Ich höre sie bereits im Warteraum, denn Emma spricht laut und schnell.

Schnell, laut und unverständlich

Emmas Mutter wendet sich an mich, weil ihre Tochter häufig nicht verstanden wird. Tatsächlich spricht Emma recht undeutlich, vor allem aber laut und schnell. Unruhig rutscht sie auf dem Stuhl hin und her, wechselt immer wieder das Thema, macht keine Sprechpausen. Sie fällt aber auch ihrer Mutter und mir ständig ins Wort. Es ist, als müsse sie ganz viel innerhalb kurzer Zeit loswerden.

Eine heisere Stimme

Mir fällt aber noch etwas auf: Emmas Stimme klingt heiser. Ich erlebe es öfters, dass Kinder mit heiserer Stimme oft sehr lebendig und temperamentvoll sind oder dass sie sich stimmlich  z.B. gegenüber ihren Geschwistern durchsetzen müssen. Von daher erkundige ich mich über Emmas Sprechverhalten im Kindergarten und zu Hause. Doch all meine Fragen zielen ins Leere. Es lässt sich nicht erklären, warum Emma laut, schnell und heiser spricht.

"Mir hört doch keiner zu!"

Damit ich mich in Ruhe mit Emmas Mutter unterhalten kann, lasse ich Emma ein Bild malen. Sie vertieft sich in ihre Zeichnung, während ich mehr über die familiäre Situation erfahre. Wir überlegen, was Emma helfen könnte, um weniger angespannt zu sprechen und damit auch die Heiserkeit zu reduzieren. Doch dann schaut sie plötzlich auf und sagt wütend: "Mir hört doch keiner zu!" Damit hat Emma die Situation auf den Punkt gebracht.

Zuhören will gelernt sein

Die Kunst des Zuhören ist eine anspruchvolle Angelegenheit, die auch für viele Erwachsene nicht leicht zu beherrschen ist. Im schnellen und hektischen Alltag wird sich oft nicht die Zeit genommen, den Gesprächspartner ausreden zu lassen. So fallen wir einander ständig ins Wort, werden immer lauter und schneller. Genauso ergeht es Emma. Nach und nach erarbeite mit ihr und ihrer Mutter Gesprächsregeln, das gegenseitige Zuhören und Abwarten. Emma lernt erstaunlich schnell und ist überglücklich, wenn sie es schafft, mich nicht zu unterbrechen. Sie erfährt gleichzeitig Wertschätzung, wenn ihr zugehört wird. Die einfachen Sprachspiele gefallen ihr, denn sie erlebt sich als selbstwirksam.

Die Symtome werden weniger

Im Laufe der Therapie wird Emmas Sprechtempo langsamer, gleichzeitig wirkt sie ruhiger und ausgeglichener. Sie ist auch leiser geworden, denn sie kann sicher sein, dass sie gehört wird. In der Familie hat sich eine neue Gesprächskultur etabliert. Alle profitieren davon, denn die Familie kann nun auf eine ganz andere Art und Weise miteinander sprechen. Durch ihr neues Sprechverhaltens hat sich auch Emmas Stimme verändert. Sie muss sich weniger anstrengen und verliert dadurch ihre Heiserheit. Vor allem aber wirkt sich auf mich ausgeglichener und irgendwie auch zufriedener.