Sei doch bitte geduldig.

„Sei doch bitte geduldig.“

Heute arbeite ich mit Jacob. Der zierliche neunjährige Junge löst seine Alltagsprobleme stets mit den Fäusten, und so berichtet er mir gleich zu Beginn der Therapiestunde von einem Konflikt mit einem anderen Jungen. Er gelingt ihm einfach nicht, Probleme mit Worten zu lösen. Mit einem rein logopädischen Vorgehen komme ich hier nicht weiter.

Umgang mit Wut

Bereits in unserer ersten Therapiestunde fällt mir auf, mit welchen Agressionen Jacob zu kämpfen hat. Die Wachsstifte drückt er so fest auf das Papier, dass sie fast brechen. Er hat eine unglaubliche Wut im Bauch. Mit den festen Stiften kann er sie jedoch gut kanalisieren und die Wut auf das Batt Papier bringen. Damit kann er seine Emotionen unter Kontrolle bringen, ohne dass jemand Schaden nimmt.

Experimente mit Farben

Heute entscheide ich mich für Wasserfarben. Ich lege Jacob ein großes Blatt Papier hin, dass fast den gesamten Tisch bedeckt. Jacob ist begeistert, dass ich ihm so viel Raum gebe. Dann lege ich Wasserfarben und Pinsel dazu. Wieder staunt er. Er darf sich einen Pinsel auswählen und beginnt, die Farbtabletten miteinander zu mischen. Ich zeige ihm, dass er die einzelnen Farben auf einer Palette mischen kann. Jacob mischt eine Farbe nach der anderen, bis ein undefinierbarer dunkler Farbton entsteht. Dann beginnt er von vorne.

"Ich haue Dich gleich."

Während Jacob sich ganz auf den Prozess des Mischens konzentriert und dabei eine kindliche Freude entwickelt, sehe ich das noch leere Blatt Papier. Ich fordere ihn auf,  etwas auf das Blatt zu malen. Doch damit reiße ich ihn aus seiner Experimentierfreude. Ihm geht es um das Mischen, nicht um`s Malen. Und so reagiert er wütend und warnt mich: "Ich haue dich gleich!".  Doch ich entgegne ihm: "Was meinst Du, wer stärker ist?" - Er schaut mich prüfend an und antwortet: "Du." - "Dann wäre es wohl keine gute Idee, wenn Du mich haust, oder?" - "Nein." Jacob realisiert, dass er den Kürzeren ziehen würde.

"Sei doch bitte geduldig."

Ich unterbreite ihm einen Vorschlag: "Wenn Du noch nicht malen sondern noch ein bisschen mischen möchtest, dann könntest du doch zu mir sagen Sei doch bitte geduldig." Jacob mischt weiter Farben, bis ich ihn wieder zum Malen auffordere: "Bitte mal doch etwas Schönes." Anstatt wütend zu reagieren, schaut er mich an und sagt "Sei doch bitte geduldig." Wir müssen beide lachen, und so wiederholen wir diesen kleinen Dialog wieder und wieder. Es ist wie ein Frage-Antwort-Spiel. Jacobs Agressionen sind verschwunden.  Er kann mit Worten seine Bedürfnisse äußern, ohne sie mit den Fäusten auszutragen. Das ist eine völlig neue Erfahrung für ihn.

Mein eigener blinder Fleck

Jacob hat in dieser Stunde gelernt, mögliche Konflikte mit Worten auszutragen. Er hat aber noch viel mehr geleistet, indem er mir meine eigenen Fehler deutlich gemacht hat. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, dass Jacob ein Bild malt und damit seine Aggressionen abbauen kann. Für ihn stand jedoch das Experimentieren mit verschiedenen Farbtönen im Vordergrund. Als Therapeutin habe ich die Aufgabe, auf seine Bedürfnisse einzugehen und ihm Raum für diese Form des Lernens zu geben. Stattdessen war ich ungeduldig, das hat mir Jacob deutlich gemacht. Genau solche Situationen ermöglichen mir, meine eigene Arbeit immer wieder zu hinterfragen und von meinen Patienten zu lernen.